K-PROFI: Schlankere Logistik - höhere Effizienz

K-PROFI-Chefredakteur Dipl.-Ing. Markus Lüling und Klaus Seybold, Leiter der Business Unit Hausgeräte bei Wirthwein, im Gespräch in Nauen. Im Hintergrund sind die Laugenbehälter zu sehen, um die es im Text geht.

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Dieser Artikel erschien im K-PROFI, Ausgabe 11-12/2021 und wurde verfasst von:

Dipl.-Ing. Markus Lüling, Chefredakteur K-PROFI

 

Wie Wirthwein in Nauen eine Ship-to-line-Belieferung von BSH Hausgeräte etabliert

In Nauen im Havelland westlich von Berlin ließ sich vor 25 Jahren die damalige Bosch-Siemens Hausgeräte GmbH (heute: BSH Hausgeräte GmbH) mit einem Produktionswerk für Weiße Ware nieder. Als einer der wichtigsten Zulieferer war auch Wirthwein gefordert, Kapazitäten für das Spritzgießen vor allem von Laugenbehältern aufzubauen. Zaun an Zaun setzte der Kunststoffverarbeiter sein Werk neben das seines Kunden. Die intensive Zusammenarbeit wurde im Sommer 2020 weiter optimiert: Wirthwein stellt seinen innerbetrieblichen Formteiltransport auf ein fahrerloses System um, und ein Routenzug liefert die Laugenbehälter jetzt direkt an die Montagelinien des BSH-Standorts. Nur ein enger Slot blieb den Verantwortlichen zur Umstellung. K-PROFI durfte ihnen in den ersten Wochen nach der Installation über die Schulter schauen.


Ein Laugenbehälter besteht aus zwei Halbschalen: Das leichtere Vorderteil hat eine runde Aussparung für die Befüllöffnung. In das schwerere und geschlossene Hinterteil werden Buchsen für die Antriebswelle eingelegt und umspritzt. Deshalb sind zwei Maschinengrößen mit 6.500 und 8.500 kN Schließkraft von KraussMaffei und Engel im Einsatz. Die jeweils größeren verfügen über eine Zulieferstation für die Einlegebuchsen. Alle Laugenbehälter bestehen aus Polypropylen. Wirthwein bezieht diese unterschiedlichsten Compounds über Silozüge. Das Material wird direkt aus dem Silo an die entsprechende Maschine gefördert und verarbeitet.

 

Umstellung der Lieferlogistik als Chance

Wirthwein lieferte Laugenbehälter bislang auf Sonderpaletten der Dimension 120 x 120 cm zu je 24 Stück via Shuttlefahrzeug. Die Linear-Entnahmeroboter der Spritzgießmaschinen stapeln die Behälterteile mit einer Genauigkeit von max. 5 mm definiert auf die Sonderpaletten.

Vor dem Hintergrund einer geplanten neuen Lieferlogistik überlegten BSH und Wirthwein gemeinsam weitere Optimierungen, die sich möglichst auch in Kostenreduzierungen niederschlagen sollten. Am Ende stand ein Konzept, das sich auf zwei wesentliche Maßnahmen stützt: Erstens die Einführung eines fahrerlosen Transportsystems (FTS) in der innerbetrieblichen Logistik bei Wirthwein. Und zweitens ein Ship-to-line-Konzept mit einer Lieferung der Laugenbehälter via Routenzug direkt an die Montagelinien, verbunden mit dem Entfall des Pufferlagers bei der BSH in Nauen. In diesem Zusammenhang wurden neue Sonderpaletten in der Dimension 204 x 120 cm mit je 30 Stück eingeführt.

 

FTS statt PTS

Bislang hat Wirthwein mit Spritzgießmaschinen auf die 120 x 120 cm großen Sonderpaletten gefertigt und diese mithilfe eines gemeinsamen Palettentransportsystems (PTS) für alle sieben Maschinen an der Außenwand der Produktionshalle entlang abgefördert (siehe Illustration oben links). „Der Umbau des seinerzeit sehr modernen Systems auf die neuen Palettenmaße war unmöglich. Ein gänzlich neues PTS wäre nicht mehr zeitgemäß und viel teurer geworden als jede andere Lösung“, berichtet Werkleiter Garri Genrich von den frühen Überlegungen. Zudem wollte Wirthwein die Stapler noch weiter aus der Produktion verbannen, die bislang Leerpaletten an die Spritzgießmaschinen brachten. „Deshalb haben wir den Rückbau geplant, um die freigewordene Fläche für eine alternative Transportmethode zu nutzen.“

Nach der internen Bewertung verschiedener Konzepte entschieden sich die Verantwortlichen für ein fahrerloses Transportsystem. Unter den FTS-Anbietern machte Safelog aus Markt Schwaben mit seinem Konzept das Rennen. „Das war eine autarke Entscheidung des Standorts, allerdings im Rahmen eines vorgegebenen Budgets“, stellt Klaus Seybold heraus, der Leiter der Business Unit Hausgeräte und Elektroindustrie bei Wirthwein. Die Projektleitung übernahmen Jürgen Wilhelm, Leiter der Konzernlogistik bei Wirthwein und Nicole Mahnke, Industrial Engineer am Standort Nauen.

Bei der Neuaufplanung der innerbetrieblichen Logistik mussten die Fahrachsen und vor allem die Stützen der Linearroboter berücksichtigt werden. Das hatte zur Folge, dass fünf Spritzgießmaschinen mit je zwei sowie zwei mit je einem Palettenstellplatz ausgestattet sind. Die Konstruktion der Schub- und Hubtische an den Maschinen und im Bahnhof hat Wirthwein selbst ausgeführt. Die drei autarken, elektrisch angetriebenen Transportroboter vom Typ Safelog AGV L1 können sich omnidirektional bewegen und sind somit sehr flexibel. Die Transportvorrichtung mit den Aufnahmepunkten für die Paletten wird über vier Hubsäulen angehoben und abgesenkt. Die AGV haben je eine feste „Homebase“ unter einem der Palettenstellplätze und laden dort, während keine Transportaufträge vorliegen, ihre Akkus auf. Der an die Spritzgießerei anschließende FTS-Bahnhof hat sieben Stationen (siehe Illustration unten links im Original-Artikel).

Um deren Betrieb mit Laugenbehältern realitätsnah zu erproben, hat Safelog im Vorfeld der Installation in einer angemieteten Halle Fahrwege, Aufnahmestationen und einen Bahnhof errichtet. Hier wurde ein Probebetrieb simuliert – mit den Serienfahrzeugen, leeren und voll beladenen Sonderpaletten und den von Wirthwein selbst konzipierten Palettenaufnahmen an den Übergabestationen zu den Spritzgießmaschinen und im Bahnhof.

 

Umstellung in der Produktionspause des Kunden

Der Umbau im Bestandsgebäude und an den sieben einbezogenen Bestandsmaschinen konzentrierte sich bei laufendem Betrieb auf die Kalenderwoche 30/2020, in der die BSH seine Montage für eine Wartungswoche ausgesetzt hatte. Wesentliche Schritte waren der Rückbau des Palettentransportsystems, die Einrichtung eines manuellen Zwischenbetriebs zur Aufrechterhaltung der Produktion und die Installation des neuen FTS.

Zur Optimierung der Flächenausnutzung wurde auch das Fertigungsraster der sieben Maschinen verdichtet und zwei Maschinen etwas gerückt. Im vollautomatischen Betrieb wird pro Stunde ein Behälterteil pro Maschine als QS-Teil automatisch über Förderband separiert. Dieser manuelle Ausschleuseweg für QS- und Fehlteile diente in den Tagen des Umbaus auch zur Abförderung der Regelproduktion. Mit dem Umbau zog Wirthwein ebenfalls eine neue WLAN-Ausleuchtung ein, um die interne Kommunikation zwischen den FTS-Fahrzeugen zu gewährleisten. Die Fahrzeuge verfügen über eine sensorgestützte, automatische Erkennung von Menschen, Maschinen und Fahrzeugen in der Bewegungsfläche.

 

Eigenleistung als Vertrauensvorschuss für das eigene Team

„Die größte Herausforderung war weder die Mechanik noch das Verrücken der Maschinen, sondern die Programmierung der Schnittstellen und die IT-Verknüpfung der Fertigungsanlagen“, berichtet Garri Genrich die Erfahrungen der ersten Tage. Schließlich waren Eingriffe in die Kommunikationsstruktur und in alle Maschinensteuerungen nötig, die Kommunikation jeder Maschine mit dem Fördersystem musste adaptiert und das FTS vertikal und horizontal in die IT-Systeme integriert werden.

Größte Überraschung für ihn war die Entdeckung „verborgener Talente“ unter den Mitarbeitern: „Den größten Teil der Aufgaben selbst machen zu dürfen, wertet die Belegschaft als Vertrauensvorschuss.“ Viele Arbeiten an Maschinen und Vorrichtungen sowie der Sicherheitssteuerung hätten durchaus an die Maschinenhersteller oder an den FTS-Lieferanten vergeben werden können, aber „wir wollten viel in Eigenleistung machen. Letztlich müssen wir unser System im Regelbetrieb beherrschen. Dann ist es gut, wenn man nicht beim kleinsten Problem einen Service rufen muss. Und das obwohl das System hier nicht ganz von der Stange ist.“ Das Team der Automatisierungstechnik am Standort Nauen um Danny Schmidt arbeitete sehr eng mit den Technikern von Safelog zusammen, um die anspruchsvolle Steuerung und Kommunikation zwischen den Systemen zu gewährleisten.

 

Ship-to-line statt Pendelverkehr und Pufferlager

Dem FTS-Bahnhof mit seinen sieben Stationen direkt gegenüber liegt ein Palettendurchlauflager. Stapler, die wegen der größeren Paletten um 70 cm verlängerte Zinken erhalten haben, nehmen die bestückten Paletten aus dem Bahnhof und heben sie in den vorgegebenen Tunnel des Pufferlagers. Das gesamte Lagerregal ist nach hinten geneigt und mit freien Rollen und Bremsrollen so bestückt, dass sich die Paletten ohne weiteres Zutun an der rückseitigen Entnahmeposition aufreihen. Das Pufferlager ist notwendig, um auf alle, auch kurzfristigen, Kundenwünsche und Mengenveränderungen schnell und flexibel reagieren zu können.

Während das FTS ein reaktives System ist, das ohne Schnittstelle zum ERP-System funktioniert, ist für die Lagerwirtschaft das SAP Warehouse-Management (WM) unverzichtbar. Es regelt die Beladung und Entnahme aus dem Lagersystem und beachtet die notwendige Reifezeit der Laugenbehälter. Mit Unterstützung vom SAP-WM-Team aus der Zentrale in Creglingen, konnte auch diese Herausforderung gut gemeistert werden.

Bislang hatte Wirthwein mit einem Sonder-Lkw, der an die Palettengröße angepasst war, im Pendelverkehr eine rückseitige Andockstation bei der BSH angefahren, wo die Paletten ein kleines Pufferlager füllten (siehe Illustration oben rechts). Stapler verbrachten dann Paletten bedarfsgerecht an die Montagelinien. Heute liefert der bei Wirthwein bestückte Routenzug von Still mit vier Anhängern in der richtigen Sequenz Wagen mit vorkonfektionierten Paletten direkt an die beiden BSH-Linien (Illustration unten rechts). Pro Montagelinie wird ein Wagen mit Vorderteilen und einer mit Hinterteilen der Laugenbehälter beladen. Der Routenzug verkehrt in einem auf die Produktionslinien harmonisierten Liefertakt und bringt die Wagen mit leeren Paletten von der BSH mit und nimmt bestückte auf. Das Routenzugsystem hat einen extrem engen Wendekreis. In den ersten Tagen nach Inbetriebnahme wurden durch die Logistiker und Staplerfahrer Optimierungen der Fahrlinie und der Parkpositionen für die Ent- und Beladung vorgenommen.

 

Ausbaufähiges und adaptierbares Logistik-Konzept

Das FTS und das Konzept des Routenzugs sind nicht an das Laugenbehälter-Projekt bei BSH gebunden, sondern vielfältig ausbaufähig und weiterverwendbar – und dies an allen Standorten. Lediglich die für Sonderpaletten ausgelegten Aufnahmen und die Programmierung mussten angepasst werden. „Das war schon eine besondere Herausforderung das neue Logistikkonzept gleich mit sieben Maschinen innerhalb des sehr kurzen zur Verfügung stehenden Zeitfensters umzusetzen“ führt Garri Genrich aus, aber hinsichtlich Staplerfreiheit und Arbeitssicherheit sei das FTS die beste Lösung. Klaus Seybold findet das Pilotprojekt auch für andere Werke interessant, denn Wirthwein betreibt neben Nauen ein weiteres Fence-to-fence-Werk sowie ein Shop-in-shop-Modell jeweils für bzw. mit BSH in Polen und ein weiteres Shop-in-shop-Modell in der Bahntechnik-Sparte bei einem chinesischen Kunden.

Beim Ziel nach mehr Wertschöpfung für Wirthwein ist Klaus Seybold immer auf der Suche nach neuen Produkten und Prozessen, die bei Gelegenheit durch Wissenstransfer von einem Standort zum anderen übertragen werden. Gut denkbar ist für ihn, dass die jetzt erfahrenen Mitarbeiter aus Nauen eine FTS-Einführung an einem anderen Wirthwein-Standort begleiten werden. „Wir laufen im Herbst in die umsatzstärksten Monate bei der Weißen Ware“, berichtet Klaus Seybold. „Das ist jedes Jahr eine große Aufgabe, in diesem Jahr mit der FTS-Einführung eine besonders spannende.“

Garri Genrich hofft mittelfristig auf Aufträge von einem neuen Automobilkunden. Platz, damit zusätzliche Maschinen in Nauen Automobilteile spritzgießen, ist jedenfalls vorhanden – auch durch die Neuorganisation in der Produktion von Laugenbehältern.

 

Wirthwein Nauen im Profil

Wirthwein Nauen ist seit 1996 operativ. Zunächst ausschließlich für die Belieferung von BSH mit Produkten für Weiße Ware konzipiert, kam 2006 die Automobilindustrie als zweite Anwenderbranche hinzu. Hauptprodukt des Standorts mit insgesamt 150 Mitarbeitern sind weiterhin Kunststoffkomponenten für Hausgeräte, und weiterhin ist BSH Hauptkunde in Nauen. Insgesamt 21 Spritzgießmaschinen im Schließkraftspektrum von 3.500 bis 16.000 kN und einem Schwerpunkt zwischen 6.500 bis 8.500 kN verteilen sich auf ein Hallenschiff für die Produktion von Hausgeräteteilen und ein Hallenschiff mit Automotive-Innenteilen. Sieben der 21 Spritzgießmaschinen stellen die beiden Hälften von Laugenbehältern her. Hauptprodukte der Fahrzeugtechnik sind Türmodule für Pkw und Leicht-Lkw, die nach dem Spritzgießen zum Teil auch beschäumt und veredelt werden. Der Standort verarbeitet jährlich rund 9.000 t Kunststoff und versorgt sich im Wesentlichen über sieben Doppelkammersilos mit 25 t je Kammer, davon sind sechs für PP und einer für Polyamid ausgelegt.

 

BSH Hausgeräte im Profil

Die BSH Hausgeräte GmbH ist mit einem Umsatz von rund 13,9 Mrd. Euro im Jahr 2020 und 60.000 Mitarbeitenden ein weltweit führendes Unternehmen der Hausgerätebranche. Zum Markenportfolio des Konzerns gehören neben elf bekannten Hausgerätemarken wie Bosch, Siemens, Gaggenau und Neff auch die Ökosystemmarke Home Connect, sowie verschiedene Servicemarken, darunter Kitchen Stories. Die BSH produziert in 39 Fabriken und ist in etwa 50 Ländern vertreten. Am Standort Nauen produziert die BSH Hausgeräte GmbH seit 1994 erfolgreich Premium-Waschmaschinen für den Weltmarkt. Die BSH ist ein Unternehmen der Bosch-Gruppe.

Der K-PROFI zu Gast in Nauen: Markus Lüling und sein Fotograf, Klaus Seybold und Werkleiter Garri Genrich. (v. l.)